Den 23. März 2011 behält Patrick Cantlay in ganz besonderer Erinnerung: Der US-Amerikaner erklomm seinerzeit die Spitze des World Amateur Golf Rankings und 54 lange Wochen machte ihm niemand diese Position streitig. Insgesamt blieb er ganze 55 Wochen in Führung, womit er den Rekord für die längste Zeitspanne auf Rang 1 bei den Amateuren aufstellte. Zumindest bis zum Jahre 2016. Dann übernahm kein Geringerer als Jon Rahm aus Spanien den ersten Platz in diesem Ranking. Der Baske egalisierte das Meisterstück des Kaliforniers und erhöhte die Bestmarke um fünf weitere Wochen. Doch wie heißt es so schön? Man sieht sich immer zweimal im Leben! Fünf Jahre später duellierten sich die beiden Kontrahenten nämlich zum diesjährigen Saisonabschluss der PGA Tour bei der TOUR Championship auf höchstem Niveau und lieferten ein packendes Finale – diesmal aber mit dem besseren Ende für Patrick Cantlay.
Bereits frühzeitig entwickelte sich im East Lake Golf Club in Atlanta ein Zweikampf zwischen den Mittzwanzigern. Jon Rahm vermochte es als Einziger, den bereits vor dem Turnier bestehenden Abstand auf Cantlay wettzumachen. Nachdem Cantlay bereits bei der BMW Championship, dem zweiten Turnier der dreiteiligen FedEx Cup-Finalserie, furioses Golf spielte und in einem Sechs-Loch-Play-off gegen seinen Landsmann Bryson DeChambeau gewann, ging er mit zehn Schlägen unter Par ins Rennen um den 15 Millionen US-Dollar-Siegerscheck. Rahm als Viertplatzierter im Gesamtranking startete indes „nur“ mit einer –6, egalisierte den Rückstand jedoch über die vier Runden in beeindruckender Manier und setzte seinen Konkurrenten bis zum letzten Schlag unter Druck. Doch„Patty Ice“ – wie die Fans ihn seit Kurzem in Anlehnung an Matty Ice, den stets stoisch gelassenen Quarterback der Atlanta Falcons, nennen – wurde seinem Spitznamen gerecht.
Während sich die Aufregung um ihn herum steigerte, Rahm am letzten Par 5 ein Eagle vorlegte und nach Schlägen gleichzog, blieb Cantlay völlig ruhig. Fokussiert auf die anstehende Aufgabe atmete er einmal tief durch, lochte mit ruhiger Hand zum Birdie, verhinderte das Stechen und bejubelte stattdessen seinen bislang größten Coup. Was für eine Nervenstärke! In den frenetischen Jubel der Zuschauer stimmte Cantlay aber dennoch nicht ein. Zunächst reagierte er sogar eher nüchtern auf seinen Sieg bei The TOUR Championship und den damit einhergehenden Gewinn des FedEx Cups. „Ich habe mir einfach gesagt, dass ich ruhig und entspannt bleiben muss. Den ganzen Tag habe ich mich einfach nur auf mich konzentriert und wollte gelassen abschließen.“ Wenig später brachen dann aber doch die Emotionen aus. „Es ist eine große Ehre, diesen Titel gewonnen zu haben. Ich habe in dieser Saison wirklich konstant gespielt und am Ende Feuer gefangen. Es ist eine große Genugtuung, wenn man bedenkt, wie viel harte Arbeit ich mein ganzes Leben lang investiert habe“, zog er Bilanz. Gleichzeitig sprach er damit aber auch auf das dunkelste Kapitel seines Lebens an.
Der Start ins Profi-Business verlief für den jungen Mann, dem die Golf-Gene praktisch in die Wiege gelegt wurden – sein Großvater Pat Neylan schlug die kleine weiße Kugel mit Bravour, sein Vater Steve war gar Clubmeister im Virginia Country Club in Long Beach – alles andere als rosig. Er spielte sich über die Web.com-Tour nach oben und erhielt dank einiger Sponsoreneinladungen die Chance, bereits im ersten Jahr bei den Professionals an Majors teilzunehmen. Nur wenige Wochen später folgte jedoch der herbe Rückschlag: Beim Fort Worth International verletzte sich Cantlay schwer an der Wirbelsäule und musste sich zurückziehen. Die geplante kurze Auszeit mündete schließlich in eine siebenmonatige Abstinenz vom Profigolf. 2014 kämpfte der ehrgeizige Athlet noch gegen die anhaltenden Schmerzen, quälte sich zu einigen Starts auf der US-amerikanischen Profitour, musste sich aber letztlich eingestehen, dass die Stressfraktur seines fünften Lendenwirbels eine längere Ruhezeit verlangte. Entsprechend entschloss er sich auf Anraten seiner Ärzte, die Spielzeit 2015 komplett auszusetzen. Rückblickend betonte er jedoch, die Tatsache zu akzeptieren, dass Nichtstun obligatorisch war, sei der schwierigste Teil gewesen.
Als er ein Jahr später gemeinsam mit seinem besten Freund und Caddie Chris Roth endlich wieder angreifen wollte, schlug das Schicksal erneut mit voller Wucht zu. Als die beiden im Februar 2016 auf dem Weg zu einem Restaurant die Straße überquerten, wurde Roth von einem Auto erfasst. Cantlay rief sofort den Notarzt, der konnte jedoch nur noch den Tod des Freundes feststellen. Nach diesem schweren Verlust verlor Cantlay den Boden unter den Füßen und fiel in eine Depression. Den Rest des Jahres verbrachte er damit, sich nicht nur körperlich, sondern auch mental wieder aufzubauen. „Es war so schlimm, wie es nur hätte sein können. Es gab Zeiten, da zählte einfach nichts mehr für mich. Aber inzwischen habe ich das Gefühl, dass ich in dieser Zeit, in der ich diese dunklen Tage durchlebte, ein besserer Mensch geworden bin. Ich war kurz davor, den Golfsport hinter mir zu lassen“, erklärte er in einem Interview. Zum Glück entschied er sich anders! Denn als er 2017, physisch und psychisch genesen, auf die PGA Tour zurückkehrte, schien es, als hätte er die Elite des Golfsports nie verlassen. Etwas tief in seinem Inneren war wohl unversehrt geblieben.
Er teete bei 13 Events auf und meisterte jedes Mal den Sprung ins Wochenende. Zum Abschluss des Jahres gelang ihm gar der erste Erfolg auf der PGA Tour, bei der Shriners Hospitals for Children Open. Was für ein Comeback! Zwei Jahre später folgte Titel Nummer 2, ehe er in der Spielzeit 2020/2021 seinen Durchbruch feierte und mit der Zozo Championship, dem Memorial Tournament sowie der BMW Championship und der TOUR Championship gleich vier Turniere für sich entschied. So viele Coups in einer Saison waren zuletzt seinem Landsmann Justin Thomas 2016/2017 gelungen. Folgerichtig wählten die PGA Tour-Mitglieder Patrick Cantlay zum Spieler des Jahres. Trotz der nahezu perfekten Saison verfiel der ausgesprochen zurückhaltende Sportler jedoch nicht in einen Freudentaumel. „Turniersiege sind nur ein Zeichen für die Arbeit, die ich geleistet habe. Nach einem Erfolg habe ich also nicht das Gefühl, dass ein großes Aufatmen oder ein Seufzer der Erleichterung nötig sind.“ Vielmehr habe er sich gleich danach immer wieder gefragt, was er tun müsse, um beim nächsten Mal wieder so gut wie möglich zu spielen. „Ich will einfach aus jedem Moment lernen und wachsen“, fügte er an und unterstrich damit seinen unbändigen Willen, zu den besten Golfern der Welt zu gehören. Nachdem er 2020 auf Platz 9 der Weltrangliste beendete, zählt er nach dieser Spielzeit bereits zu den Top 5. Keine Frage, von Patrick Cantlay werden wir auch in Zukunft noch einiges hören. Denn aufgeben kommt für ihn einfach nicht infrage.